Betrachtungen zu Spitzwegs Gemälde „Spanisches Ständchen“
Dieter Bollmann
München, 2001

Bei Regenwetter geht auch ein Hobbyastronom in ein Museeum. In der Münchener Schack-Galerie sprach mich ein amüsantes Bild von Carl Spitzweg an. Es zeigt eine romantische Abendstimmung bei schönem Wetter und - da sind ja Sterne zu sehen! Das geübte Auge erkennt sofort das Sternbild Orion. Schon war mein Interesse geweckt.

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Gemälde Abendständchen

Das Bild
Das Bild mit dem Titel „Spanischens Ständchen“ stellt eine Szene aus der Oper „Der Barbier von Sevilla“ von Gioacchino Rossini dar. Weil Carl Spitzweg mein Lieblingsmaler ist und ich mich an die interessante Besprechung eines Bildes von C. D. Friedrich in der Zeitschrift "Sterne und Weltraum" erinnerte, beschloß ich, das Gemälde näher zu analysieren.
Ausschnitt mit SternenDas Bild schildert die Musikanten im 1. Akt der Oper, als sie gerade dem Mädchen Rosina ein Ständchen darbringen. Wie in einem Opernführer nachzulesen ist, wurden sie vom auf der Treppe wartenden Grafen Almaviva bestellt, der so die Liebe der angebeteten Rosina erringen möchte. Diese traute sich aber wegen ihres strengen Vormundes nicht am Balkon zu erscheinen und ist nur schemenhaft im Kerzenschein des Fensters zu erkennen. Im Hintergrund sieht man die Umrisse des markanten Turmes Giralda, dem Wahrzeichen der Stadt Sevilla.  Rechts darüber zeichnet sich das Sternbild Orion deutlich in der Abenddämmerung ab.

Genauere Betrachtung

Es wäre doch reizvoll, aus der Stellung der Sterne auf die Jahreszeit zu schließen, die der Maler in dem Gemälde darstellt. Spontan vermutete ich den Wonnemonat Mai, weil da die Triebe sprießen.
Prüfende Blicke zum Abendhimmel über München belehrten mich jedoch: Das Wintersternbild Orion wäre im Mai nur noch horizontnah zwischen den Bäumen zu finden und läge deutlich auf die rechte Seite geneigt, ganz anders als im Gemälde. Oder spielt die Szene früher im Jahr?
Der Turm Giralda
Sollte der sonst so detailgetreue Spitzweg frei phantasiert oder das Bild wie eine Collage aus mehreren Szenen zusammen gesetzt haben, die weder örtlich noch zeitlich zusammenhängen? Vermutlich ist zumindest das Haus im Vordergrund nach dramaturgischen Gesichtspunkten frei gestaltet. Dennoch besteht die Möglichkeit, dass Spitzweg beim Hintergrund eine real gesehene Situation wiedergibt. Ein Besuch der Stadtbibliothek mit diversen Reiseführern bestätigte, daß die abendliche Skyline gut zum Wahrzeichen von Sevilla, dem Turm „Giralda“ der Kathedrale paßt. Von den französischen Malern in Fontaine Bleau hat er schließlich das Malen der reinen Natur in der Natur gelernt.
Da drängt sich auch die Frage auf, ob der Maler selbst in Sevilla gewesen ist, um die Szene authentisch skizzieren zu können. Die mir vorliegenden Kunstführer sagen: nein. Seine für damalige Verhältnisse beachtliche Reiselust führte ihn nur bis Wien, Triest, Venedig, Paris und London. Schon zu Lebzeiten wurde jedoch bestaunt, wie einfühlsam und realistisch er zum Beispiel rauchende und palavernde Türken malen konnte. Er verstand es also, sich originale Informationen zu beschaffen und die Menschen und die Natur genau zu beobachten. Reisebeschreibungen mit Zeichnungen von berühmten Stadtansichten waren auch vor Einführung der Fotografie reichlich im Umlauf und Spitzweg war ein begeisterter Leser. Als gelernter Apotheker nahm er an der damals allgemeinen Begeisterung für die Errungenschaften der Naturwissenschaften teil, wie einige humorvolle Bilder bezeugen. Die Oper wurde 1816 in Rom uraufgeführt, erregte großes Aufsehen und kam 1820 nach Deutschland. In der Entstehungszeit des Gemäldes um 1854 war die Handlung und Szenerie der Oper in Künstlerkreisen allgemein bekannt und jeder gebildete Bürger konnte die Symbolik des Bildes sofort deuten.

 Die Sterne

Wenn man als Hypothese die korrekte Darstellung der Proportionen des Turmes gemeinsam mit dem Sternenhimmel annimmt, ist es erlaubt zu fragen, wann ein Beobachter in Sevilla die Situation so gesehen haben kann. Was kann man also an den Sternen im Gemälde ablesen? Am auffälligsten ist die Orientierung der drei Gürtelsterne des Orions mit 25° zum Horizont. Gleichbedeutend, aber mit höherer Genauigkeit läßt sich die Orientierung der Verbindungslinie von Rigel zu Beteigeuze messen. Auch der Stern Prokyon kann links identifiziert werden. Aus dem Winkel kann man auf die Tageszeit schließen.
Davon unabhängig kann man als Zweites die Elevation (Höhe über Horizont) des Sternbildes abschätzen. Die Analyse der Perspektive des 79 m hohen und 13,6 m breiten Turmes ergibt eine Entfernung des Betrachters vom Turm von etwa 300 m. Der nicht sichtbare Horizont läßt sich dafür aus dem Verhältnis von Breite und Höhe des Turmes etwa in Höhe des Fußbodens, auf dem der Graf steht, festlegen. Für einen perspektivisch richtigen Bildeindruck hätte dann dem Sternbild im Gemälde mehr Platz zugestanden werden müssen. Andererseits kann auch aus der dargestellten Größe des Sternbildes auf die Höhe geschlossen werden, die aber unwahrscheinlich hoch ausfällt. Als Kompromiss daraus schließe ich auf eine Elevation von etwa 50°.
Als Drittes kann der Azimut (horizontale Richtung) des Sternbildes aus der Blickrichtung zum Turm bestimmt werden. Wenn die Lage des Turmes aus einem Stadtplan bekannt ist, kann aus dem Verhältnis der sichtbaren Seiten des Turmes die Blickrichtung berechnet werden. Bei der Zählung wie am Kompass ergibt sich 190°, also Südsüdwest.
Mit einem Astronomie Programm (eine drehbare Sternkarte aus Pappe tut‘s auch) lassen sich die Kombinationen von Datum und Uhrzeit bestimmen, zu denen die Orientierung des Sternbildes paßt. Da Sevilla mehr als 10 Breitengrade weiter südlich als München liegt und damit der Himmelsäquator steiler steht, muß diese Stadt als Beobachtungsstandpunkt eingegeben werden, um die korrekten Winkel zu erhalten. Möglich ist Mitte Februar um 22 Uhr (MEZ), Mitte März um 20 Uhr, oder Mitte April um 18 Uhr. Als Faustregel gilt ja: einen Monat später erscheinen die Sternbilder um 2 Stunden früher in der gleichen Position. Der April, Mai und spätere Termine scheiden aus, weil die Sonne noch hell am Himmel stehen würde und Sterne unsichtbar wären. Die deutlich sichtbaren Sterne und die Resthelligkeit der Dämmerung deuten auf die Zeitspanne von einer halben bis ganzen Stunde nach Sonnenuntergang hin. Der Februar-Termin erscheint auch unglaubwürdig. Es wäre längst stockdunkle Nacht. Und ein Liebhaber müsste schon sehr heißblütig sein, um Musikanten kurz vor Mitternacht zu motivieren und seine Geliebte auf den Balkon zu locken. Die Situation Anfang März ist dagegen für Südspanien glaubwürdig.

Das Wetter

Die Musikanten tragen warme Umhänge und Mützen, im März ist es auch in Spanien abends kühl. Es dürfte aber noch nicht zu kalt sein, um am geöffneten Fenster den verlockenden Melodien zu lauschen. Sonnenuntergang in Sevilla ist Mitte März gegen 19:25, in der Dämmerung sind noch einige in Auflösung begriffenen Cirrus- und Cumuluswolken zu sehen. Die Sterne sind von einem nur am Originalbild sichtbaren Hof umgeben. Die Balkonblumen und Kletterpflanzen tragen kleine Blätter aber noch keine Blüten. Diese klimatischen Bedingungen sind für einen Abend im März in Südeuropa  plausibel.

Der Mond

Neben der Dämmerung, den Sternen und dem rötlichen Kerzenschein im Zimmer bestimmt noch eine vierte Lichtquelle die Stimmung. Das fahle Mondlicht beleuchtet die Hausfassaden, die Musikanten und die linke Seite des Turmes. Auch wenn der Mond selbst nicht sichtbar ist, kann man doch aus dem deutlichen Schatten des Oboenspielers auf die Position des Mondes schließen. Er steht recht hoch in etwa östlicher Richtung und dürfte vor oder nahe der vollen Phase sein, was die romantische Stimmung sicherlich steigert. Den Hobbyastronom reizt die eher nüchterne Frage: Zu welchem Termin steht der Mond im März hoch im Osten? Weil 12 Monate leider nicht genau einem Jahr entsprechen, ist die Konstellation für jedes Jahr eigens zu berechnen.
Die Kunsthistoriker geben die Jahre um 1854 als wahrscheinliche Entstehungszeit des Gemäldes an. Für das Jahr 1854 ergibt sich für den 11. März gegen 20:15 tatsächlich die geforderte Position des Mondes hoch im Südosten. Die Jahre 1853 und 1856 sind unwahrscheinlich, weil die Dämmerung bei einer günstigen Mondstellung noch nicht dunkel genug ist. In den Jahren vor 1852 steht der Vollmond wegen der Wanderung des Mondbahnknotens noch nicht so deutlich über der Ekliptik. In den Jahren von 1855 bis 1859 wandert der helle Planet Saturn durch das Bildfeld, ist aber nicht gemalt worden. Die geringfügigen Abweichungen durch die Präzession der Erdachse brauchen hier nicht beachtet zu werden.

Ergebnis

Als Fazit lässt sich festhalten: In den Tagen um den 11. März im Jahre 1854, etwa eine Viertelstunde nach 8 Uhr hat es eine astronomisch nachvollziehbare Konstellation von Sternbild, Sonne und Mond gegeben, die zusammen mit den klimatischen Bedingungen und der Silhouette von Sevilla in Übereinstimmung zur gemalten Szene ist. Ich behaupte nicht, Spitzweg hätte das Bild in der angegebenen Nacht gemalt. Die Überlegungen zeigen lediglich, daß sich der Künstler intensiv mit Sternbildern, dem Klima und dem Stadtbild von Sevilla auseinandergesetzt und genaue Vorlagen verwendet hat. Auch wenn die Musikanten wohl nicht wirklich an dem berechneten Tag in Sevilla aufgespielt haben, so hatte Carl Spitzweg doch ein so gutes Naturverständnis, um eine real mögliche Konstellation zu komponieren.
Wie dem auch sei, in der Oper ließ sich das Mädchen doch noch von der Musik auf den Balkon locken, was schließlich zu einem glücklichen Ende für die Liebenden führte.

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